60 Jahre JOT – Rückschau aus der Zukunft

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Anlässlich des 90. Jubiläums hat das Wissens-Network JOT den "Lackierer" Peter Powder gebeten, zu erzählen, wie sich die Pulverbeschichtung seit 2020 bis heute, 2050, verändert hat. Er war 2020 gerade neu in dem Geschäft und hat die letzten 30 Jahre selbst miterlebt.

"Das waren noch Zeiten damals im Jahr 2020. Die Aufgabe von uns ‚Lackierern‘ – eine fürchterlich despektierliche Bezeichnung – war eine Mischung aus Verwalter des Farblagers, qualitativ hochstehendem Beschichter, Reinigungskraft bei Farbwechseln und Experte für Robotertechnologie. Eine Person machte mehrere Jobs. Gut ausgebildetes und motiviertes Fachpersonal war schon damals schwer zu finden und Ausbildungsmöglichkeiten auf dem Gebiet waren rar. Dafür entwickelte sich aber die Technologie rasant. Begriffe wie ‚Digitalisierung‘ oder ‚Industrie 4.0‘ waren in aller Munde und damit neben der Hoffnung auf Arbeitserleichterungen auch die Angst, dass Hacker in Systeme eindringen und wichtige Firmengeheimnisse stehlen könnten – oder noch schlimmer, die Produktionsanlagen stillgelegt werden. Das kam auch vor – am Anfang zumindest, als die Digitalisierung zwar Fortschritte machte, die Cyber-Security aber noch in den Kinderschuhen steckte. Für Anlagenbauer und Applikationshersteller war es eine echte Herausforderung, ihre Anlagen und Geräte so sicher wie möglich zu machen. Der große Durchbruch kam, als ‚Cyber-Digital-Banken‘ als Hüter von Daten und Software auf den Markt kamen. Zusammen mit sinnvollen Datenschutzgesetzen stieg das Vertrauen in den Austausch von Daten und Informationen. Ab diesem Zeitpunkt ließen sich Programme und Daten nicht mehr einfach manipulieren. Über Ferngriffe konnten nun Reparaturen sowie vorausschauende Services sicher und direkt durchgeführt werden.

Visuelles Abtasten mit Iris-Objekten

Die Entwicklung der Digitalisierung damals in den 20er Jahren eine aufregende Zeit. Touch Screens waren für uns als Bedienpersonal das Höchste der Gefühle. Oder bewegliche Achsen, gesteuert über Laser-Scanner. Das war High-Tech. Aber zur Programmierung mussten noch alle Daten für Hochspannung, Strom und Luftmenge mehr oder weniger manuell eingeben werden. Roboter wurden noch geführt programmiert, nicht wie heute üblich über visuelle Abtastung eines Objekts mit künstlicher Intelligenz. Wie das funktioniert? Ein Objekt wird mit den in unseren Visualizern eingebauten Iris-Objektiven erkannt, die Geometrie und alle Daten analysiert und die Beschichtungsdaten gelangen aus der Cloud passgenau und in Echtzeit zu den Geräten, die das Pulver auftragen. Dazu nutzen wir auch Kleinstdrohnen, die in kürzester Zeit komplexe Objekte detektieren. Für bereits erfasste Objekte entfällt die Erkennung natürlich. Früher war die Technik fürchterlich komplex. Ich kann mir kaum noch vorstellen, dass damals noch sogenannte Pulver-Pistolen, zu denen mit Pumpen über meterlange Schläuche das Pulver-Luftgemisch geführt wurde, mechanisch vertikal bewegt wurden und so das Pulver mehr oder weniger gleichmäßig auf die Teile gebracht wurde. Und im Innern der Pistolen wurden Pulverpartikel mit über 100 kV aufgeladen. Unglaublich!

Pulveraufladung durch Hyperionisation

Der große Durchbruch bei den Applikationsanlagen kam mit der ‚Hyperionisation‘, welche die bis dato übliche Aufladung mit Hochspannung ablöste. Mit künstlicher Intelligenz wird jedes Pulverpartikel nach Größe, Gewicht und Auftrieb erfasst und in Sekundenbruchteilen so präpariert, dass es sich optimal zum Objekt bewegt und sich mit dem Substrat verbindet. Damit entfällt die teure Bereitstellung von Transportluft. Und Erdung braucht es auch nicht mehr, was uns die Pulverbeschichtung aller Materialien ermöglicht. Dass damit auch die großen, teuren und reinigungsaufwendigen Kabinen abgeschafft werden konnten, war natürlich ebenfalls ein Pluspunkt. Denn mit der neuen Technologie haben wir einen Auftragswirkungsgrad von praktisch 100 Prozent und nur noch eine Partikelmenge von wenigen Gramm pro Quadratmeter. Gut, es dauerte schon einige Zeit, bis sich das Verfahren der ‚Hyperionisation‘ durchgesetzt hatte. Denn die damals handelsüblichen Pulverlacke waren dafür nicht geeignet. Aber da die Rohstoffe ohnehin knapp wurden, mussten die Pulverlackhersteller Ersatzstoffe für ihre Rezepturen finden und entwickeln. Schließlich setzten sich alle Beteiligten in der Oberflächentechnik an einen Tisch und ließen sich ein vernetztes System einfallen. Vom Pulverlackhersteller und Rohstofflieferant über die Anlagentechnik bis zur Applikation suchten sie aktiv nach einer Lösung. Das war ein Meilenstein in der Entwicklung.

Corona-Krise setzte neue Entwicklungen in Gang

Ermöglicht hat diesen Schritt auch meine Generation, die in Sachen Umweltschutz und Nachhaltigkeit viel weiter war als ihre Vorfahren. Vermutlich hatte das auch mit der sogenannten Corona-Krise im Jahr 2020 zu tun, welche viele Entwicklungsschritte erst ermöglichte. Diese Krise brachte viele Menschen zum Umdenken. Lieferketten wurden neu aufgestellt und wieder sicherer gemacht, Gift in Pulverlacken wurde eliminiert und neue Materialien wie Verbundstoffe eroberten die Märkte. Die Endabnehmer der lackierten Produkte wollten plötzlich ganz genau wissen, was auf ihren Geräten und Teilen drauf ist. Dieses neue Bewusstsein der Kundschaft, aber auch der Endverbraucher half natürlich, den Weg für Neuentwicklungen frei zu machen. Wenn ich daran zurückdenke, wie viele Beschichter im Jahr 2020 noch das ‚Vollgas-Beschichten‘ praktizierten. So nannten wir es, wenn Ausstoß und Pulvermenge einfach bis auf Anschlag geöffnet wurden. Welche Material- und Energieverschwendung! All das wäre heute nicht mehr möglich. Steuerungen regeln heute alles komplett selbständig. Und die Strafsteuern für sinnlos vergeudetes Pulver wäre ohnehin derart hoch, dass eine Firma schon bald Konkurs gehen würde.

Giganto Data

Bei den Datenmengen dachten wir 2020, dass mehr Datenverarbeitung gar nicht mehr geht. Wir sprachen damals von ‚Big Data‘. Aus damaliger Sicht würde wohl ‚Giganto Data‘ die heutige Situation treffend beschreiben. Dank den heutigen 8G-Netzwerken lassen sich diese Datenmengen aber problemlos in der Cloud verarbeiten. Mit den langsamen 5G-Netzen der 2020er Jahre wäre das kaum möglich gewesen. Allein wegen der fast schon als Standard zu bezeichnenden Losgröße 1, welche mein Unternehmen beschichtet, und den durchgängig vernetzten Prozessketten, sind unendlich viele Daten zu verarbeiten: Objekttyp, Struktur, Molekülzusammenstellung, Pulverlacktyp, Schutzfaktoren, Einsatzgebiet und vieles mehr. Alle Daten werden exakt aufeinander abgestimmt und ergeben individuelle und kundenindividualisierte Lösungen. Darum haben im Jahr 2050 schlussendlich auch die meisten Großunternehmen und Konzerne keine eigene Beschichtung mehr. Für diese Unternehmen ist es einfacher, ihre Bauteile just in Time bereitzustellen und wir beschichten sie in einem Durchgang mit all den geforderten Farbnuancen. Seit einigen Jahren können wir unmittelbar vor der Beschichtungslinie die Teile auch nach Kundenanforderung im 3D-Drucker fertigen und innerhalb weniger Stunden ausliefern – zugegeben, der 3D-Druck ist eine etwas altbackene Technologie, funktioniert aber immer noch sehr gut.

Vollsynthetische Stoffe zur Trockenreinigung

Für diese Losgröße 1 mussten sich die Anlagenbauer etwas umgewöhnen. Denn irgendwann war die Zeit der großen Bäder oder Vorbehandlungstunnels mit Abspritzen auch abgelaufen. Selbstverständlich, gereinigt werden müssen die Substrate immer noch. Aber die neuen, vollsynthetischen Stoffe der Chemiehersteller dienen zur Trockenreinigung. Toll, dass damit keine überflüssige Heizenergie mehr zum Trocknen von Teilen erzeugt werden muss. Womit auch? Mit einem Gasbrenner oder gar Ölbrenner? Diesen Luxus kann sich heute, 2050, kaum jemand mehr erlauben. Nur noch Firmen, die wirklich große Teile mit konventionellen Materialien produzieren, setzen auf solch antiquierte Technik. Dank den Ultra-Niedrigsttemperatur-Pulvern brauchen wir ohnehin nur noch wenig über Zimmertemperatur für den Vernetzungsprozess der Pulverpartikel. Das ist praktisch.
Diese Losgröße-1-Philosophie hat natürlich zur Folge, dass häufig Farben gewechselt werden. Doch die neuen Verfahren erfordern nur noch einen Bruchteil an Pulverpartikeln. Und diese sind für die Schutzbeschichtung immer gleich. Wir können also praktisch eine Sorte Pulver fahren. Wie die Farbe entsteht? Ach so, das hatte ich noch gar nicht erwähnt. Die wird nachträglich einprogrammiert. Darum kann auf Wunsch ein schwarz lackiertes Objekt zu einem späteren Zeitpunkt auch in Rot umprogrammiert werden. Natürlich bezahlt der Kunde bei diesem neuen Verfahren keinen Preis nach Quadratmeter und aufgrund des Pulververbrauchs mehr. Das war 2020 noch so. Heute wird per ‚Gutteil‘ abgerechnet. So, wie Software auch schon lange nicht mehr gekauft, sondern in der Cloud gemietet wird.

Beamen von Teilen ist noch unzuverlässig

So, jetzt muss ich mit meiner Beschichtungsanlage zum nächsten Kunden. Denn diese bringen die Teile natürlich nicht mehr zu mir. Heute fährt die Beschichtung zu den Objekten. Denn das ist wohl das einzige was sich nicht geändert hat. Große Bauteile sind und bleiben auch im Jahr 2050 groß. Und das ‚Beamen‘ ist leider immer noch ziemlich unzuverlässig. Wenn Sie mal Zeit haben, freue ich mich auf einen Besuch von Ihnen im Jahr 2050. Und wenn Sie nicht glauben, was ich Ihnen hier alles über die Zukunft Ihrer Branche erzählt habe – Sie werden staunen, wenn wir uns in 30 Jahren treffen."

Unser Rückblick aus der Zukunft basiert auf Interviews mit erfahrenen Experten eines Anlagenbauers, eines Pulverlackherstellers und eines Lohnbeschichters. Matthias Horber hat im Auftrag von JOT die Interviews geführt und diesen Beitrag geschrieben.


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