Die Dekoration von Oberflächen ist ein sehr altes Thema, angefangen bei Höhlenmalereien in der Steinzeit über die chinesische Lackkunst im 5. Jahrhundert vor Christus bis zur Industrialisierung Anfang des 20. Jahrhunderts, zum Beispiel bei der industriellen Automobillackierung durch Henry Ford. Vor diesem zeitlichen Hintergrund vieler Jahrtausende verwundert es nicht, dass Veränderungsprozesse in der Lackiertechnik oft etwas langsamer verlaufen als beispielsweise in der IT-Branche. Trotzdem muss sich auch die Lackierbranche neuen Herausforderungen stellen. Wichtige neue Anforderungen in der industriellen Lackiertechnik betreffen beispielsweise die hohen Lohnkosten in Europa und den Mangel an Fachkräften im Bereich der Oberflächentechnik. Dies führt zum Bedarf weiterer Automatisierung in Bereichen, in denen bislang manuelle Prozesse effizienter waren. Damit einhergehend steigt auch die Forderung nach Variantenvielfalt, kleinen Stückzahlen und einer generellen Flexibilität. So gibt es bisher kein allgemeingültiges Idealkonzept, wie heutzutage eine Lackieranlage zu planen ist, die noch in 20 Jahren topaktuell sein wird.
Resilienz als neues Paradigma
Zudem wird das Thema der Nachhaltigkeit immer dringlicher und wichtiger. Da die Oberflächentechnik einen signifikanten Beitrag am Energiebedarf einer Produktion hat, setzt diese Zielerfüllung eine Nutzung aller Energiesparpotenziale voraus. Daneben ist oft die Lackiererei ein Hauptverursacher von Lösemittelemissionen, so dass auch dieses Thema erneut angegangen werden muss. Die aktuelle anhaltende Pandemie-Krise zeigt sehr deutlich, dass Unternehmen zukünftig lernen müssen, besser mit unvorhergesehen Ereignissen umzugehen: sei es bei Änderungen in der Lieferkette, bei einer veränderten Marktsituation oder bei neuen gesetzlichen Rahmenbedingungen. In diesem Zusammenhang scheint Resilienz – also die Fähigkeit nach einer Störung schnell wieder in einen geordneten Zustand überzugehen – ein neues Paradigma zu sein, das bei der Auslegung von Prozessen zukünftig verstärkt berücksichtigt werden muss.
Digitale Methoden erhöhen die Flexibilität
Damit ergibt sich ein Trend zur weiteren Automatisierung, allerdings unter der neuen Nebenbedingung eines hohen Maßes an Wandlungsfähigkeit. Das bedeutet, dass hier zur Disruption führende Ansätze erforderlich sein werden. Die ersten in diese Richtung gehenden Maßnahmen, die auch jetzt schon Einzug halten, sind digitale Methoden, um einerseits flexibler reagieren zu können und andererseits einen besseren Überblick über die Prozesse zu schaffen und auf Abweichungen reagieren zu können. Damit die Anlagen selbstständig reagieren können, werden zudem Algorithmen des Machine-Learning eingesetzt, die aufgrund der vorhandenen Daten die Zusammenhänge erlernen. Um die Komplexität auf eine handhabbare Größe zu reduzieren, ist es sinnvoll, diese Algorithmen mit dem Wissen des Werkers und den Resultaten aus numerischen Simulationen zu kombinieren. Ein Beispiel wäre die Vorhersage der Oberflächenqualität aus den Zerstäubungsparametern, den Lackeigenschaften und verfahrenstechnischen Größen, die in den letzten Jahren deutliche Fortschritte erfahren hat. Wichtige Quintessenz aus Projekten zu diesem Themengebiet ist, dass Lackchemie/-physik und Prozesstechnik Hand in Hand gehen müssen. Ein Beispiel für die Zukunft könnte die automatische Erstellung von Lackierprogrammen sein, um so der Variantenvielfalt Herr zu werden. Erste Projekte dazu gibt es schon.
Vom Roboterarm zur Drohne
Zukünftig wird es vermutlich auch nicht bei dem klassischen Knickarmroboter als Bewegungsapparat für die Applikationstechnik bleiben. Viele Tätigkeiten – vor allem bei Reparaturvorgängen – müssen vor Ort durchgeführt werden. Aktuelle Untersuchungen prüfen daher den Einsatz von fahrbaren Plattformen, zum Beispiel zur Beschichtung von Schiffen. Noch flexibler wäre der Einsatz von Drohnen mit Spritzeinrichtungen.
Durch Kombination all dieser Ideen könnte ein Fabriklayout zukünftig ganz anders aussehen. Die bisher üblichen, im Verhältnis zu den zu beschichtenden Objekten sehr großen Oberflächentechnik-Zentralanlagen könnten in kleine kompakte Lackiermodule aufgeteilt werden, die jeweils an die richtige Stelle in den Prozess eingebaut werden. Möglich wird dies dadurch, dass die Lackiereinheiten keine aufwendige Lufttechnik mehr brauchen und der Lack im besten Falle in kürzester Zeit beispielsweise mit UV-Strahlung ausgehärtet wird. So können die Teile nach der Beschichtung sofort weiterbearbeitet werden.
Veränderungen wird es natürlich auch aufseiten des Lacks geben: Immer mehr Funktionen werden integriert und der Lackaufbau auf diese Weise kompakter bis für die meisten Anwendungen möglicherweise eine multifunktionale Lackschicht ausreichen wird. Möglich machen können dies stratifizierenden Lacke, bei denen sich nach der Applikation zum Beispiel die Pigmente so in der Lackschicht anordnen, dass Funktionen und Eigenschaften im Filmquerschnitt unterschiedlich werden. Beschichtungen können neben Schutz und Optik aber auch weitere Funktionen erfüllen. So besteht die Möglichkeit, Sensorik in Beschichtungen zu integrieren, zum Beispiel bezüglich Annäherung, und schließlich die lackierte Oberfläche mit Aktorik auszustatten, beispielsweise in Form von Farbänderung oder mit Leuchteffekten.
Der komplette Beitrag ist in der Jubiläums-Ausgabe von JOT erschienen
Autor(en): Dr. Oliver Tiedje, Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA